Domizid

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die Begriffe Domizid bzw. Urbizid (von lateinisch domus ‚Haus‘ bzw. lateinisch urbs ‚Stadt‘ und lateinisch caedere ‚morden‘, ‚metzeln‘) beschreiben mit leicht abweichenden Konnotationen denselben Sachverhalt: die systematische und großflächige Zerstörung von Wohnraum und ziviler Infrastruktur. Beim Begriff Domizid liegt der Schwerpunkt auf der Zerstörung von Gebäuden, Infrastruktur und Wohnraum, beim Begriff Urbizid liegt der Schwerpunkt auf der Zerstörung einer Stadt als geografischem und kulturellem Ort. Motive und historische Beispiele betreffen zumeist dieselben Vorkommnisse.

Der Domizid ist zu unterscheiden vom Demozid, welcher vorsätzliche Massentötungen von bestimmten Menschengruppen durch eine Regierung bezeichnet.

Definition[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Verwendung der Begriffe Domizid und Urbizid ist unscharf und weitestgehend synonym.[1][2] Die Begriffe beschreiben die „systematische Zerstörung von Gebäuden und materiellen sowie immateriellen, symbolischen Strukturen der Stadt [...], die darauf zielt, die Grundlagen des materiellen, sozialen und kulturellen städtischen Lebens intentional zu vernichten. Deshalb spielen dabei nicht nur Versorgungseinrichtungen eine Rolle, sondern gerade auch städtische Strukturen und Gebäude, die für die Gemeinschaft und ihre Vielfalt zentrale Bedeutung haben, also Plätze, Verbindungen oder identitätsstiftende Gebäude und Ensembles.“[1]

In der Fachliteratur werden zwei Formen von Domizid bzw. Urbizid unterschieden: Zum einen die Zerstörung von Wohnraum aus städteplanerischer Perspektive, zum anderen die Zerstörung im Kontext von Krieg, Vertreibung und Kolonialisierung (nach Potraeus und Smith, die den Begriff in den Diskurs eingeführt haben, „extremer Domizid“). Die zunächst eingeführte Definition beider Begriffe betraf den ersten Aspekt.[1][3]

Die Begriffe heben hervor, dass nicht nur Gebäude als materieller Bestand zerstört werden, sondern auch das immaterielle, kulturelle Erbe und die kollektive Identität, die Geschichte, und das soziale Leben.[4] In kriegerischen Konflikten wird Domizid bzw. Urbizid verwendet, um die Bevölkerung zu demoralisieren oder kollektiv zu bestrafen.[3] Hier steht er auch in einem Zusammenhang mit Memorizid, der Auslöschung der kollektiven Erinnerung.[3] Zudem wird hervorgehoben, dass häufig im Zusammenhang mit einem Genozid bzw. so genannter „ethnischer Säuberung“ ein Domizid (oder Urbizid) stattfindet.[1]

Verwendungsgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff Urbizid („urbicide“) wurde 1987 durch den Philosophen Marshall Berman im Zusammenhang mit der Erneuerung der Bronx in New York eingeführt, bei der alte Baustrukturen abgerissen wurden. In der Folge sollen 300.000 Menschen aus der Bronx verdrängt worden sein.[1] Der Begriff Domizid wurde erstmals 2001 von Douglas Potraeus und Sandra Smith verwendet.[5] Auch wenn die Begriffe auch weiterhin in Zusammenhang mit radikalen städteplanerischen Maßnahmen verwendet werden, etwa mit Infrastrukturmaßnahmen im ländlichen China,[6] werden sie seit dem Jugoslawienkrieg und der systematischen Zerstörung von Infrastruktur und Städten in Bosnien zunehmend in Zusammenhang mit kriegerischen Konflikten verwendet.[1][7]

Domizid in Bezug auf Palästina[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Zusammenhang mit dem Krieg in Israel und Gaza seit 2023 wurde der israelischen Seite ein Domizid als Mittel der Kriegsführung vorgeworfen. Es sollen nicht nur die Tunnel der Hamas, sondern mitunter auch in gezielter Absicht Wohnhäuser infolge der massiven Bombardements zum Einsturz gebracht worden sein, was immer wieder menschliche Tragödien zur Folge hat. Laut Untersuchungen der Oregon State University waren im Mai 2024 mehr als die Hälfte der Häuser in Gaza schwer beschädigt oder vollständig zerstört. Zwei Millionen Menschen seien zu dem Zeitpunkt obdachlos.[8]

Als Folge der weitreichenden Zerstörungen und aus Gründen der rechtlichen und moralischen Verantwortung fordern die UN-Experten entsprechende Reparationen seitens Israels und aller Länder, die den Krieg und die Besatzung militärisch, materiell und politisch unterstützt haben.[9]

Forderung nach Einstufung des Domizids als Verbrechen gegen die Menschlichkeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von zahlreichen UN-Experten wird der Domizid als Mittel der Kriegsführung sehr kritisch betrachtet. Bisher wird der Domizid nach internationalem Recht nicht eindeutig als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Im Oktober 2023 legte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Wohnraum einen Bericht an die UN vor, in dem er die Forderung darlegte, dass es sich hierbei um eine sehr große Gesetzeslücke handele, die unbedingt gefüllt werden müsse.

Auch vertreten immer mehr Rechtswissenschaftler und andere Gelehrte die Meinung, dass die systematische und wahllose Zerstörung ganzer Stadtviertel durch Sprengstoffwaffen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet werden sollte, und zwar nicht nur im Gazastreifen, sondern ebenso in Städten wie Aleppo, Mariupol, Grosny oder in Myanmar. Diese Forderung wurde untermauert durch den am 15. April 2024 von Expertinnen und Experten der Vereinten Nationen veröffentlichten Bericht, nach welchem sechs Monate nach Beginn der Militäroffensive im Gazastreifen prozentual mehr Wohnungen und zivile Infrastrukturen zerstört wurden als in jedem anderen bewaffneten Konflikt seit Menschengedenken.[10]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • J. Douglas Porteous, Sandra E. Smith: Domicide: The Global Destruction of Home McGill-Queen's University Press, Montreal & Kingston, London, Ithaca, 2001

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f Dietrich Henckel: Urbizid: Stadtmord. Eine Skizze. In: Leon Hempel, Marie Bartels, Thomas Markwart (Hrsg.): Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart. transcript, 2013, S. 397–420.
  2. Destroying cities during war targets people's sense of home: architect. In: CBC Radio. 20. Juni 2022, abgerufen am 27. Mai 2024.
  3. a b c Douglas Porteous, Sandra E. Smith: Domicide: The Global Destruction of Home. McGill Queen's University Press, 2001.
  4. Klaus Englert: Ukrainische Stadt als Kriegsziel: Der Hass aufs Hybride. In: Die Tageszeitung: taz. 13. Juli 2022, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 27. Mai 2024]).
  5. John Vervaeke, Christopher Mastropietro, Filip Miscevic: Zombies in Western Culture. Open Book Publishers, Cambridge 2018, S. 35.
  6. Charlotte Bruckermann: Claiming Homes: Confronting Domicide in Rural China. In: Dislocations. Nr. 26, 2020.
  7. Netta Ahituv: Amid Israeli Destruction in Gaza, a New Crime Against Humanity Emerges: Domicide. Hrsg.: Lemkin Institute. 4. Januar 2024 (lemkininstitute.com [abgerufen am 27. Mai 2024]).
  8. Gaza: Domizid durch die israelische Armee? Weltspiegel vom 12. Mai 2024, abgerufen am 12. Mai 2024
  9. Gaza: UN experts deplore use of purported AI to commit ‘domicide’ in Gaza, call for reparative approach to rebuilding Bericht des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte vom 15. April 2024, abgerufen am 16. Mai 2024
  10. Widespread destruction in Gaza puts concept of domicide in focus The Guardian vom 7. Dezember 2023, abgerufen am 12. Mai 2024