Organische Polysulfide

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Allgemeine Struktur der organischen Polysulfide. Häufige Vertreter sind Trisulfide mit n = 1 und Tetrasulfide mit n = 2

Organische Polysulfide sind eine Stoffgruppe der organischen Chemie, deren Vertreter als Strukturelement eine Kette von drei oder mehr Schwefelatomen enthalten. Dazu gehören die Trisulfide mit einer Kette aus drei Schwefelatomen, die Tetrasulfide mit vier, sowie einige Verbindungen, die Ketten aus noch mehr Schwefelatomen aufweisen. Im weiteren Sinne gehören alle Verbindungen mit S-S-Bindungen dazu, also auch die Disulfide.

Vorkommen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Diverse Naturstoffe mit einer Polysulfid-Einheit kommen in Lebewesen vor, wobei Trisulfide und Tetrasulfide am häufigsten sind. Ihre biologische Bedeutung liegt möglicherweise in der Speicherung von Schwefel und der Freisetzung von Schwefelwasserstoff, der wiederum verschiedene biologische Effekte ausübt, insbesondere in der posttranslationalen Modifikation von Proteinen.[1]

Lineare Polysulfide[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einfache lineare Polysulfide kommen beispielsweise in Mansoa alliacea (links) und im Kalebassenbaum (rechts) vor

Diverse Polysulfide kommen in Knoblauch und anderen Allium-Arten vor. Dazu gehören beispielsweise die Diallylpolysulfide aus Knoblauchöl, die bis zu sieben Schwefelatome aufweisen.[2] Das ätherische Öl aus Blättern und Blüten von Mansoa alliacea besteht fast vollständig aus Diallyldisulfid, Diallyltrisulfid und Diallyltetrasulfid.[3] Beim Kalebassenbaum und das Kaktusart Pilosocereus colombianus (Gattung Pilosocereus) kommen Dimethyltrisulfid und Dimethyltetrasulfid vor. Diese Pflanzen werden von Fledermäusen bestäubt und die Schwefelverbindungen dienen vermutlich als Lockstoffe.[4] In Extrakten aus Asant kommen diverse Polysulfide vor, insbesondere größere Mengen Di-sec-butyltrisulfid.[5] Helicodiceros muscivorus (Aroideae) ist eine Pflanze, die auf einigen Mittelmeer-Inseln vorkommt und durch Fliegen bestäubt wird, die sie mit einem imitierten Verwesungsgeruch anlockt. Der Geruch wird durch Schwefelverbindungen verursacht, zu denen auch Dimethyltrisulfid gehört.[6]

Cyclische Polysulfide[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zu den cyclischen Polysulfiden gehört das Lenthionin, das eine Aromakomponente von Shiitake-Pilzen ist. Es handelt sich strukturell um einen Siebenring, der aus einer Disulfid-Einheit, einer Trisulfid-Einheit und zwei Methylengruppen besteht.[7] Ähnliche Verbindungen kommen auch in den Bohnen von Parkia speciosa und in Spargel vor.[1]

Varacin, das zuerst aus der Seescheide Lissoclinum vareau isoliert wurde, weist eine Pentasulfidkette an einem Benzolring auf.[8] Inzwischen sind weitere Verbindungen bekannt, die mit dem Varacin strukturell eng verwandt sind, beispielsweise die Lissoclinotoxine.[1]

Verbrückte Polysulfide[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In diversen Spezies von Pilzen kommen Diketopiperazine vor, die mit einer Polysulfid-Kette verbrückt sind.[1] Dazu gehören einige Vertreter der Sporidesmine aus Pithomyces chartarum.[9] In einigen Pilzen wie Aspergillus fumigatus kommt neben dem Disulfid Gliotoxin auch ein Analogon mit einer Trisulfid-Einheit vor.[10] Ein Pilz der Gattung Leptosphaeria, der auf einer Golftang-Art lebt, produziert die Leptosine. Diese sind komplexe Moleküle mit jeweils zwei verbrückten Diketopiperazin-Einheiten. Die Schwefelbrücken treten in verschiedenen Kombinationen mit Disulfid-, Trisulfid- und Tetrasulfid-Einheiten auf.[11] Eine weitere Verbindung mit Trisulfid-Brücke ist das Luteoalbusin B aus Acrostalagmus luteoalbus.[12]

Endiin-Verbindungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Teilstruktur der Calicheamicine mit Endiin-Struktur und Methyltrisulfid-Einheit

Eine biologisch relevante Gruppe von Naturstoffen mit einer Trisulfid-Einheit sind die Endiin-Antibiotika. Die Trisulfid-Einheiten sind mitverantwortlich für deren biologische Aktivität: Durch Reaktion mit einem Nucleophil kann die Trisulfid-Einheit zerfallen und der freiwerdende Thiol kann durch intramolekularen Angriff einen Ring bilden. Durch die erhöhte Ringspannung kann die Endiin-Einheit in einer Bergmann-Cyclisierung ein Diradikal bilden, das DNA-Strangbrüche verursachen kann. Verbindungen die zu dieser Stoffgruppe gehören sind die Calicheamicine, die Esperamicine, die Shishijimicine und das Namemamicin.[1]

Herstellung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Trisulfide können durch Reaktion einer Disulfidchlorid-Verbindung (-SSCl) mit einem Thiol (-SH) hergestellt werden. Eine andere Methode ist die Reaktion eines Hydrodisulfids (-SSH) mit einem Sulfenylchlorid (-SCl).[13]

Eine neuere Synthesemethode für organische Polysulfide basiert auf einer elektrochemischen Insertion von Schwefelatomen aus molekularem Schwefel (S8) in Dichlormethan. Als Edukte dienen Disulfide oder Thiole. Dabei entsteht ein Gemisch von Polysulfiden mit unterschiedlichen Anzahlen von Schwefelatomen. Ein Zusatz von 10 % Kohlenstoffdisulfid als Kosolvenz erhöht den Umsatz verringert die Diversität in Richtung eines deutlichen Maximums bei den gebildeten Mengen an Trisulfiden und Tetrasulfiden. Als Edukte wurde Dibutyldisulfid beziehungsweise 2 Äquivalente Butanthiol eingesetzt, aber auch Diphenyldisulfid und andere Thiole und Disulfide.[14]

In einer Synthese des Luteoalbusin B wurde die Trisulfidbrücke mittels Chlor(trityl)disulfan aufgebaut.[12] In einer Totalsynthese des Shishijimicin A wurde die Methyltrisulfid-Gruppe mittels N-(Methyldithio)phthalimid aufgebaut.[15] Diese Verbindung wurde ebenfalls in einer Totalsynthese des Namenamicins verwendet.[16] Lenthionin wurde durch Umsetzung von Dichlormethan oder Formaldehyd mit Natriumpolysulfid hergestellt.[7]

Polysulfid-Polymere werden hergestellt indem eine Dichlor-Verbindung, beispielsweise Bis(2-chlorethoxy)methan mit Natriumpolysulfid polymerisiert wird. Um verzweigte Polymere zu erhalten, kann 1,2,3-Trichlorpropan zugesetzt werden.[17]

Verwendung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Organischer Polysulfide werden als Kathodenmaterial bezihungsweise Zusatz in Lithium-Schwefel-Akkumulatoren erforscht, da sie möglicherweise eine höhere Energiedichte erzielen können. Dazu gehören beispielsweise Dimethyltrisulfid und Diphenyltrisulfid.[18][19]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e Michael Pluth, T. Bailey, Matthew Hammers, Matthew Hartle, Hillary Henthorn, Andrea Steiger: Natural Products Containing Hydrogen Sulfide Releasing Moieties. In: Synlett. Band 26, Nr. 19, 22. Oktober 2015, S. 2633–2643, doi:10.1055/s-0035-1560638.
  2. A. Sendl: Allium sativum and Allium ursinum: Part 1 Chemistry, analysis, history, botany. In: Phytomedicine. Band 1, Nr. 4, April 1995, S. 323–339, doi:10.1016/S0944-7113(11)80011-5.
  3. M. Apparao, A. Kjær, J.ø. Madsen, E. Venkata Rao: Diallyl di-, tri- and tetrasulphide from Adenocalymma alliaceae. In: Phytochemistry. Band 17, Nr. 9, Januar 1978, S. 1660–1661, doi:10.1016/S0031-9422(00)94664-8.
  4. Jette T. Knudsen, Lars Tollsten: Floral scent in bat-pollinated plants: a case of convergent evolution. In: Botanical Journal of the Linnean Society. Band 119, Nr. 1, September 1995, S. 45–57, doi:10.1111/j.1095-8339.1995.tb00728.x.
  5. B. Rajanikanth, B. Ravindranath, M.L. Shankaranarayana: Volatile polysulphides of asafoetida. In: Phytochemistry. Band 23, Nr. 4, April 1984, S. 899–900, doi:10.1016/S0031-9422(00)85054-2.
  6. Marcus C. Stensmyr, Isabella Urru, Ignazio Collu, Malin Celander, Bill S. Hansson, Anna-Maria Angioy: Rotting smell of dead-horse arum florets. In: Nature. Band 420, Nr. 6916, Dezember 2002, S. 625–626, doi:10.1038/420625a.
  7. a b Shyozo Wada, Hiromi Nakatani, Katsura Morita: A New Aroma‐Bearing Substance from Shiitake, an Edible Mushroom. In: Journal of Food Science. Band 32, Nr. 5, September 1967, S. 559–561, doi:10.1111/j.1365-2621.1967.tb00831.x.
  8. Bradley S. Davidson, Tadeusz F. Molinski, Louis R. Barrows, Chris M. Ireland: Varacin: a novel benzopentathiepin from Lissoclinum vareau that is cytotoxic toward a human colon tumor. In: Journal of the American Chemical Society. Band 113, Nr. 12, Juni 1991, S. 4709–4710, doi:10.1021/ja00012a065.
  9. E. Francis, R. Rahman, S. Safe, A. Taylor: Sporidesmins. Part XII. Isolation and structure of sporidesmin G, a naturally-occurring 3,6-epitetrathiopiperazine-2,5-dione. In: Journal of the Chemical Society, Perkin Transactions 1. 1972, S. 470, doi:10.1039/p19720000470.
  10. P Waring, Rd Eichner, U Tiwari-Palni, A Mullbacher: Gliotoxin-E: A New Biologically-Active Epipolythiodioxopiperazine Isolated From Penicillium terlikowskii. In: Australian Journal of Chemistry. Band 40, Nr. 5, 1987, S. 991, doi:10.1071/CH9870991.
  11. Chika Takahashi, Atsushi Numata, Yoshinori Ito, Eiko Matsumura, Hiromasa Araki, Hideo Iwaki, Katsuhiko Kushida: Leptosins, antitumour metabolites of a fungus isolated from a marine alga. In: Journal of the Chemical Society, Perkin Transactions 1. Nr. 13, 1994, S. 1859, doi:10.1039/p19940001859.
  12. a b Timothy C. Adams, Joshua N. Payette, Jaime H. Cheah, Mohammad Movassaghi: Concise Total Synthesis of (+)-Luteoalbusins A and B. In: Organic Letters. Band 17, Nr. 17, 4. September 2015, S. 4268–4271, doi:10.1021/acs.orglett.5b02059, PMID 26336940, PMC 4597594 (freier Volltext).
  13. Takeshige Nakabayashi, Jitsuo Tsurugi: Organic Polysulfides. III. Synthesis and Some Properties of Several Unsymmetrical Polysulfides 1. In: The Journal of Organic Chemistry. Band 26, Nr. 7, Juli 1961, S. 2482–2486, doi:10.1021/jo01351a082.
  14. Jan Fährmann, Gerhard Hilt: Electrochemical Synthesis of Organic Polysulfides from Disulfides by Sulfur Insertion from S 8 and an Unexpected Solvent Effect on the Product Distribution. In: Chemistry – A European Journal. Band 27, Nr. 43, 2. August 2021, S. 11141–11149, doi:10.1002/chem.202101023.
  15. K. C. Nicolaou, Zhaoyong Lu, Ruofan Li, James R. Woods, Te-ik Sohn: Total Synthesis of Shishijimicin A. In: Journal of the American Chemical Society. Band 137, Nr. 27, 15. Juli 2015, S. 8716–8719, doi:10.1021/jacs.5b05575.
  16. K. C. Nicolaou, Ruofan Li, Zhaoyong Lu, Emmanuel N. Pitsinos, Lawrence B. Alemany: Total Synthesis and Full Structural Assignment of Namenamicin. In: Journal of the American Chemical Society. Band 140, Nr. 26, 5. Juli 2018, S. 8091–8095, doi:10.1021/jacs.8b04592.
  17. Amin Pirayesh, Mehdi Salami-Kalajahi, Hossein Roghani-Mamaqani, Faezeh Najafi: Polysulfide Polymers: Synthesis, Blending, Nanocomposites, and Applications. In: Polymer Reviews. Band 59, Nr. 1, 2. Januar 2019, S. 124–148, doi:10.1080/15583724.2018.1492616.
  18. Sui Gu, Jun Jin, Shangjun Zhuo, Rong Qian, Zhaoyin Wen: Organic Polysulfides Based on SSS Structure as Additives or Cosolvents for High Performance Lithium‐Sulfur Batteries. In: ChemElectroChem. Band 5, Nr. 13, 2. Juli 2018, S. 1717–1723, doi:10.1002/celc.201800196.
  19. Dan-Yang Wang, Wei Guo, Yongzhu Fu: Organosulfides: An Emerging Class of Cathode Materials for Rechargeable Lithium Batteries. In: Accounts of Chemical Research. Band 52, Nr. 8, 20. August 2019, S. 2290–2300, doi:10.1021/acs.accounts.9b00231.